Groteske Momente
Ulrike Ottinger im Interview mit Gerald A. Matt und Verena Konrad
Gerald Matt: Sie haben als Malerin begonnen und sind später als Filmemacherin berühmt geworden. Parallel dazu haben Sie kontinuierlich fotografiert. Wie sehen Sie das Verhältnis von Malerei, Fotografie und Film in Ihrer Arbeit?
Ulrike Ottinger: Bevor ich begann, Filme zu machen, habe ich nicht nur gemalt und Grafiken gemacht, sondern auch im Bereich der Performance gearbeitet. Schon für die Bilder, die ich Anfang der 60er in Paris malte, habe ich mit Freunden „Lebende Bilder” inszeniert. Meine großen Triptychen mit bande dessinée-artigen Erzählungen und andere Bilder sind so entstanden. In Ausstellungen in Paris und Fontainebleau habe ich die Bücher, die ich damals las, ausgestellt, und von einem Grammophon kamen Toncollagen und Musik aus meiner Schellackplattensammlung. In diesen Inszenierungen folgte ich dem Prinzip der Collage und Montage auf Bild-, Text- und Tonebene.
Meine fotografische Arbeit, zunächst nur in Schwarzweiß, hatte aber auch viel mit dem Skizzieren und Dokumentieren von Realität zu tun. Für meine Bilder hatte ich auf den Pariser Straßen sehr viel Alltagsmaterial gesammelt, zum Teil gezeichnet und fotografiert. Meine Fotos führten also von Anfang an ein Doppelleben: als eigenständige Aufnahmen und als integrierter Teil. Es existieren beispielsweise inszenierte Fotos, in denen ich zusammen mit Tabea Blumenschein schon zehn Jahre vor Bildnis einer Trinkerin eine elegante Dame unterschiedliche Trinkabenteuer durchleben lasse. Oder es gibt Fotografien bestimmter Berliner Orte und Bauten, die ich schon Jahre vor Freak Orlando aufgenommen habe, bevor sie dort im Hintergrund der Spielhandlung eine Parallelwelt entwickeln, die die Geschichte der Industriearchitektur in Berlin erzählt. Zugleich gibt es Fotografien, die während der Dreharbeiten meiner Filme entstanden sind und dem Genre des Film- Stills am nächsten kommen. Und dann gibt es noch meine große Sammlung an Reisefotografien, die manchmal ganz unabhängig von Filmen, manchmal zu ihrer Vorbereitung entstanden sind. Fotografie hat für mich also unterschiedliche Funktionen. Die Fotos, die im Kontext mit den Filmen entstehen, sehe ich als etwas Eigenständiges, obwohl sie Teil des Gesamtkonzeptes sind. Fotografie ist für mich ein Mittel, mit dem ich sehr vertraut bin, wie ein Maler, der Skizzen macht: beispielsweise auf Reisen als visuelle Notiz für meine Drehbücher oder für die Konzeption von komplexen Totalen oder Details. Ich versuche, für jedes Thema und jede Situation eine adäquate Form zu finden.
Verena Konrad: In der Ausstellung Parallelwelt Zirkus1 sind Sie sowohl mit Filmen als auch mit Fotografien vertreten. Unter welchem Blickwinkel sind diese Arbeiten entstanden?
Ulrike Ottinger: Wenn man künstlerisch arbeitet, sucht man nach Bildern oder Figuren, die etwas deutlich zeigen. Wie können Sie etwa eine komplizierte und unauflösbare Beziehung besser zeigen als durch siamesische Zwillinge? Siamesische Zwillinge müssen alles teilen, auch die intimsten Dinge. Wir leben in Unauflösbarkeiten und es ist ein Charakteristikum der Zivilisation, mit diesen Unauflösbarkeiten leben zu können.
Ich finde es hochinteressant mit Extremen zu arbeiten. Über Extreme kann man sehr Vieles besser zeigen. Während der Entstehung von Freak Orlando habe ich mich viel mit Menschen zu diesem Thema unterhalten, mit Paulchen Glauer z.B. oder Fräulein Mausi, die in berühmten Zirkus- Schauen auftraten. Besonders gerne erinnere ich mich an die riesige Fotosammlung von Paulchen Glauer und seine Schilderungen. Menschen wie er hatten zu ihrem Anderssein eine ganz besondere Beziehung, durch seine Kleinwüchsigkeit war er in seinem Umfeld ein Star. Die Bedeutung des Andersseins ist heute eine ganz andere. Die Erzählungen der Studentin der Politikwissenschaften
Therese Zemp z.B., die in Freak Orlando als Frau ohne Unterleib mitspielt, zeigen eher ihre Verletzlichkeit und Kränkung durch die Stigmatisierung von außen. Wir haben nach dem Dreh zu Freak Orlando oftmals gemeinsam gegessen und lange gesprochen, und die Wahrnehmungen der beiden in Bezug auf ihr Anderssein waren sehr unterschiedlich. Die Älteren waren berühmt und lebten davon, sich zu zeigen. Die jüngere Generation hat heutige Berufe und leidet im Alltag unter dem Wegsehen. Dazu kommt noch ein zweites Phänomen. Die Side Shows sind bei uns ja während der Zeit des Nationalsozialismus verschwunden. Das Andere, das Deformierte durfte nicht existieren neben dem faschistischen „Ideal des perfekten Menschen”. Freak Orlando thematisiert so auch, wie auf Außenseiter in unterschiedlichen Zeiten reagiert wurde. Jede Episode spielt in einer anderen Zeit und die Vergangenheit spiegelt dabei immer die Gegenwart und umgekehrt.
Matt: Welche Bedeutung haben formale Aspekte wie Farbe und Rahmen in Bezug auf Ihre Arbeit mit der Kamera?
Farben sind für meine Filme und Fotografien sehr wichtig, weil sie Stimmungen vermitteln, und zwar unabhängig von oder zusätzlich zu den dargestellten Menschen, Dingen oder Landschaften. Dabei geht es nicht nur um einzelne Farben, sondern darum, wie die Farben gegeneinander gesetzt sind: etwa extrem voneinander abgegrenzt wie im Kabuki-Theater, wo sie klar und unvermischt nebeneinander stehen, oder changierend, wenn ich die Licht- und Farbflecken fast impressionistisch auflöse. (...) In meinem Film Bildnis einer Trinkerin habe ich mit einer graduellen Zurücknahme der Farben gearbeitet: von Rot zu Gelb zu Blau zu Silber. Der Film beginnt damit, dass die Farbe Rot das Bild ganz ausfüllt. Dann tritt es aus der Kamera hinaus und wird als Mantel und Hut der Protagonistin sichtbar, gerade als sie ihr großes Abenteuer im Zeichen des Aller – Jamais Retour antritt. Die elegante Trinkerin wird auf den Stationen ihrer Reise in immer neue Wechselbäder getaucht, die sich optisch als Farbbäder entpuppen. Tabea Blumenscheins Kostüme entfärben sich dabei von grellem Rot und Gelb zu mondänem Blau und schließlich zu durchsichtig schimmerndem Silber. Das Silber vermag der Figur keine Farbe mehr zu verleihen, es reflektiert aber umso stärker deren Umgebung. Und so nistet sich in die Farbthematik diejenige des Spiegels ein. Ich arbeite gerne mit reflektierenden Oberflächen wie Glas, Wasser, Spiegeln, Folien und fließender Materie. Sie ermöglichen es, Bilder für alles Doppelte, Fließende und sich Auflösende zu finden.
Eine ähnliche Funktion haben Rahmen in meinen Bildern. Ich gehe oft in Sammlungen und Museen. Als ich acht Jahre lang in Paris lebte, bin ich jede Woche einmal im Louvre gewesen. Manchmal nur, um ein einziges Bild zu sehen. Ich beschäftige mich sehr viel mit Bildkompositionen und wähle die Ausschnitte meiner Fotos sehr bewusst. Ich zeige damit, dass es immer ums Bildermachen geht. Das deutlichste Beispiel ist der Theaterrahmen in meinem Film Dorian Gray im Spiegel der Boulevardpresse. Darauf sind Illustrationen im Stil des fin-de-siècle-Malers Gustave Moreau gemalt. Sie verweisen auf die Exotik der Kolonial-Oper, die innerhalb des Rahmens vorgeführt wird. Es ist eine Mehrfachkonstruktion: Außerhalb des Rahmens gibt es die Geschichte von Frau Dr. Mabuse, der Chefin eines internationalen Medienkonzerns, und Dorian Gray, ihrem Schüler, Opfer und Rivalen. Den betont künstlichen Theaterrahmen habe ich in eine Naturlandschaft gestellt. Der Vorhang geht auf und die Natur wird zur Opernbühne. Die Kunst rahmt die Natur: Das Meer im Hintergrund ist echt, aber der Wolkenhimmel ist gemalt und Teil des Rahmens. Ein weiteres Bild zeigt eine Felswand mit einer Höhle, die, unterstützt durch eine Stoffdrapierung, zur Theaterloge wird. Von dort aus sehen Frau Dr. Mabuse und Dorian Gray als Opernbesucher sich selber zu - in ihren Rollen auf der Bühne als Großinquisitor von Sevilla und als junger spanischer Infant. Mit solchen Binnen-Rahmungen und trompe-l’oeil-Effekten arbeite ich gern. Das schafft immer die Möglichkeit, das Verhältnis von Kunst und Natur zu reflektieren.
Matt: Die Menschen, mit denen Sie besonders viel und eng zusammen arbeiten, sind häufig, wie Tabea Blumenschein oder Veruschka von Lehndorff, sehr schön. Was bedeutet Schönheit für Sie, und was spielt das Groteske, das Andere, das Absurde und das Fremde in Ihrer Arbeit und speziell in Ihren Bildnissen für eine Rolle?
Das Schöne und Groteske sind für mich unlösbar miteinander verknüpft. Deshalb setze ich sie gerne nebeneinander oder miteinander ins Bild. Denn erst dadurch wird deutlich, dass Schönheit, wie Karl Rosenkranz geschrieben hat, aus dem Hässlichen entspringt und Ergebnis eines Prozesses ist, der allen Makel vom Alltäglichen abzieht. Schönheit ist zuallererst Wunschbild, dann Kunstbild, und manchmal taucht sie in der Wirklichkeit auf, weil wir sie suchen und finden. Und umgekehrt wird erst im Kontrast zum idealen Schönen das Hässliche als dessen Differenz und Differenzierung deutlich. Tendieren das schöne Gesicht und die schöne Gestalt zum Statischen, so entfaltet sich der andere, verstörende Körper in der Reibung mit dem Schönen und gewinnt dadurch eine ungeheure Vielfalt und Lebendigkeit. Mich interessieren beide Pole, mehr noch aber ihre Übergänge und Kontaminationen. Tabea Blumenschein ist in vielen meiner Bilder zum schönen Bild verdichtet. In der Fotosequenz Der Schrei verwandelt sich diese Ikone sukzessive. Das Gesicht gerät in mimische Bewegungen, die bis an die Grenze der Grimasse reichen. Erst in der wechselseitigen Referenz wird deutlich, dass Schönheit auch kunstvolle Attitude ist und Hässlichkeit sich dynamisch aus ihr heraus entwickelt. Deformation ist für mich ein aufschlussreicher Kommentar zur idealen Form und umgekehrt. In meinem Film Freak Orlando und in den dazugehörigen Fotos ist dieser Zusammenhang das zentrale Thema der Erzählung. Hier bilden zwergwüchsige und übergroße Menschen, Doppelköpfler und Damen ohne Unterleib die Hauptakteure eines Kosmos, der gleichberechtigt von realen und imaginären Körpern bewohnt ist. Sie werden wie die Titelfigur durch historische Metamorphosen geschickt, bis sie bei einem Festival der Hässlichen in Oberitalien ihr Ziel erreicht haben. Wo aber das Hässliche sich selbst übertrumpft, bringt es das Schöne als Außenseiter und Kuriosum hervor. Und so nimmt die französische Kino-Ikone Delphine Seyrig im Playboy-Bunny-Kostüm den Siegerpokal entgegen: Im Wettbewerb der Hässlichen ist die Schöne der Freak schlechthin. Was die Schlussepisode des Films auf der Erzählebene thematisiert, interessiert mich zugleich immer auch als ästhetische Frage. So habe ich mit der Hauptdarstellerin von Freak Orlando, Magdalena Montezuma, viele fotografische Studien gemacht, in denen sie sich durch Leder-, Metall- und Prothesen-Accessoires in eine monströse Gestalt verwandelt oder ihre regelmäßigen, klar geschminkten Züge durch einen Zerrspiegel eine Metamorphose bis zu abstrakten Schemen durchlaufen: Form und Deformation sind für mich zentral, weil sie oft erst im Miteinander die künstlerische Arbeit am Schönen sichtbar machen.
Der Spiegel und, noch mehr der Zerrspiegel, hat eine wichtige Bedeutung für mich. Er kommt in den meisten meiner Filme von der Berlin-Trilogie bis Prater vor. Tausende von Fotostudien mit Tabea Blumenschein, Magdalena Montezuma und auch einige mit Veruschka sind seit Anfang der 70er Jahre bis heute entstanden. Es ist ein beunruhigendes oder groteskes, manchmal auch komisches und sehr aussagekräftiges Bild für Verzerrung, Verschiebung, Metamorphose, Überblendung oder Verschmelzung. In Bildnis einer Trinkerin mit Tabea Blumenschein lösen sich Spiegelbilder auf, indem sie mit Flüssigkeiten begossen werden. Und in Prater durchläuft Veruschka in einem realen Spiegelkabinett bizarre Metamorphosen.
In diesem Zusammenhang fällt mir mein Erschrecken ein, als ich bei meiner ersten Indienreise am Fuße von Tempeltreppen oder Innenhöfen auf Bettler, Lepröse oder durch Elefantiasis verunstaltete Menschen traf, wie ich sie ähnlich in der Mittelalterepisode von Freak Orlando ein Jahr zuvor inszeniert hatte. Es war das Erschrecken, wenn die eigene Bildwelt der Realität begegnet. Als Freak Orlando entstand, 1980/81, gehörten Bettler in unseren Straßen noch nicht zum Alltagsbild so wie heute, wo vor allem die Armen aus Südosteuropa mit gefalteten Händen an jeder Ecke knien, so wie Stifterfiguren auf alten Bildern, bescheiden am unteren Bildrand der Szenerie. Die Fiktion kommt der Realität erschreckend nah, und die Realität ist eine Konstruktion, manchmal eine Illusion.
Konrad: In Ihrem Film Prater beschreiben Sie filmisch eine “Wunsch- und Traummaschine”, die für Wien eine besondere Rolle spielt und durchaus Verwandtschaft zu unserem Thema, dem Zirkus, aber auch zu Jahrmarktszenarien hat. Wie sind Sie auf den Prater aufmerksam geworden? Welche Bedeutung hat der Prater für Sie?
Das allererste Mal sah ich den Prater vom Atelier des Bildhauers Karl Prantl aus. Ich besuchte ihn 1969 oder 1970, sah aus dem Fenster und nahm mir schon damals vor, diesen besonderen Ort näher anzusehen. Im Zusammenhang mit dem Film Prater begann ich aber erst viel später, 1998, zu recherchieren, als ich zu einem Symposium über Elfriede Jelinek eingeladen war und einige Tage in Wien verbrachte. Ich nutzte damals die Gelegenheit und besuchte Museen und Archive, sprach mit vielen Menschen, die im Prater arbeiteten. Generell spielen Orte für mich eine ganz zentrale Rolle, vor allem Orte am Rande. In diesem Zusammenhang steht auch die Auseinandersetzung mit Prater. Der Prater ist ein sehr zentraler Ort in Wien und dennoch exterritorial, er ist ein Möglichkeitsraum. Hier begegnen sich alle sozialen Schichten, Reiche und Arme, das Land und die Stadt, Wiener und Menschen von woanders. Das eigentlich Faszinierende an diesem Ort ist, dass hier Geschichte, im Speziellen eine Kulturgeschichte des Vergnügens, der sozialen Schichten, eine Geschichte von Zeitgeist, Mode und technischer Entwicklung sichtbar wird.
Die Schaubuden werden hier Illusionsgeschäfte genannt, und das trifft ja auch für das Kino zu. Es arbeitet mit der Strategie der Verführung, wozu auch die eigene Imagination kommen muss, damit die Sache aufgeht. Speziell bei diesem Film habe ich nochmals über das Thema Illusion und Imagination, Imitation und Simulation, beziehungsweise Simulationstechniken, neu nachgedacht. Das frühe Kino ist ja ein Kino der Attraktionen, und sein Geburtsort ist der Rummel. Es hat viel mehr mit dem, siamesischen Zwilling' Illusion-Imagination zu tun als das heutige, kommerzielle Kino. Das ist ja vor allem ein Simulationskino geworden, analog zu den Spielhallen, deren Produkte auch Derivate aus der Weltraumforschung und Pilotenausbildung sind. Der Bauchredner, der scheinbar seine Puppe sprechen ließ, ist dagegen eher ein Imitator im alten Sinn, ähnlich den Tierstimmenimitatoren in nomadischen oder Jägergesellschaften.
Was ist Illusion!? Ist sie ein Schaukelpferd, mit dem ein Kind im wilden Galopp dahersprengt, ist sie ein Schneeparadies in einer eisgekühlten Mall der Emirate, in dem Gipfelsturm und Pistenfreuden in High-Tech-Ausrüstung und Outfit erlebt werden können? Ist sie eine
Weltraumfahrt, ein Flug in einem Kampfjet, eine Runde mit dem Rennboot oder Motorrad mit Hilfe neuer Simulationstechniken?
Der Prater ist eine Zeitmaschine. Deshalb habe ich zusätzlich zu meinen neuen Filmbildern mit allen Arten von Zitaten gearbeitet. Auch Veruschka als Barbarella oder böse Barbiepuppe ist ein Zitat. Elfriede Jelinek und Elfriede Gerstl haben persönliche, poetisch-analytische Texte für den Film geschrieben. Sie lesen ihre eigenen Texte und zitieren sich also selbst. Aus einer unglaublichen Fülle großer Literatur habe ich auch Texte von Elias Canetti, Felix Salten und ein unveröffentlichtes Typoskript von Erich Kästner ausgewählt. Unter den vielen fotografischen Dokumenten ist Emil Mayer besonders bemerkenswert. Er hat den Prater von der Jahrhundertwende bis in die 30er Jahre fotografisch festgehalten, mit einer Vorliebe für die Beobachtung der Zuschauer. Musik von mechanischen Musikautomaten, Kirmes-Orgeln, Orchestrions, Walzen, Lochkarten, mechanischen Puppen, Music-Boxen mit all ihren Ohrwürmern aus verschiedenen Zeiten sind zu hören. Und nicht zuletzt tritt das Kino mit dokumentarischen und Spielfilmausschnitten von der Jahrhundertwende bis in die 60er Jahre als Zitat seiner selbst auf.
Diese vielfältigen Referenzen, in Verbindung mit meinen neuen Bildern vom Prater, zeigen nicht nur die Geschichte der Vergnügungen über die Zeiten hinweg, sondern bilden ein Amalgam, in dem ihre erstaunlich konstante Struktur sichtbar wird.
Konrad: Sie haben in vielen Ihrer Arbeiten mit Menschen zusammengearbeitet, die eine enge Beziehung zum Zirkus haben, z. B. mit dem Zirkus Renz in Bildnis einer Trinkerin. Da tanzt Frau Renz auf dem Seil.
Ja, nach 25 Jahren ging sie wieder für diesen Film auf das Seil! Ist das nicht wunderbar? Was mich am Zirkus und an Zirkusleuten fasziniert, ist diese absolute Professionalität im Artistischen. Ich bin einfach ein absoluter Zirkusfan und gehöre zu den Leuten, die bis heute sehr gerne in den Zirkus gehen. Ich denke, die Menschen, die im Zirkus arbeiten, leben auch mit dem Zirkus. Das ist etwas, was mich sehr interessiert und ich sehe da eine Verbindung zum Wandertheater, zum Wanderkino, zu den Rhapsoden, die mit ihren Geschichten und Erzählungen herumziehen, und natürlich zum Kino.
Matt: Was, würden Sie abschließend sagen, macht Sie als Künstlerin aus?
Ich glaube, es ist die Fähigkeit, die Dinge, die man sieht und erfährt, künstlerisch so zu verdichten, dass das Wesentliche sichtbar wird. Oder im spielerischen Umgang mit Realität die Elemente zu neuen Welten zusammenzusetzen, so dass ein schärferer Blick möglich wird.
- 1Anmerkung der Redaktion: Eine Auswahl von Ulrike Ottingers Arbeiten wurde 2012 in der von Verena Konrad und Gerald Matt kuratierten Gruppenausstellung „Parallelwelt Zirkus“ in der Kunsthalle Wien gezeigt. Die Thematik des Zirkus in Ottingers Arbeiten wurde hier gezielt aufgenommen und verweist auf eine Metapher für eine utopische Perspektive, in der der Zirkus als sanftes Spiegelbild der Revolution erscheint.
Bilder 1, 2 und 5 aus Bildnis einer Trinkerin (Ulrike Ottinger, 1979)
Bilder 3 und 4 aus Dorian Gray im Spiegel der Boulevardpresse (Ulrike Ottinger, 1984)
Mit freundlicher Genehmigung von Ulrike Ottinger.
Das Interview wurde im Rahmen von Theatrum Mundi - Ulrike Ottinger Retrospektive übersetzt, die am 6. Dezember im belgischen CINEMATEK in Anwesenheit der Künstlerin eröffnet wird. Mit freundlicher Unterstützung des Goethe-Instituts Brüssel. Dieses Interview ist eine bearbeitete und übersetzte Version eines Gesprächs zwischen Ulrike Ottinger und Gerald A. Matt, das erstmals veröffentlicht wurde in: Ursula Blickle Stiftung, Ursula Blickle, Kunsthalle Wien, Gerald A. Matt, Witte de With, Catherine David (Hrsg.), Ulrike Ottinger. Bildarchive, Verlag für moderne Kunst Nürnberg, 2005, 135. Das Interview wurde von Verena Konrad in einem Telefongespräch im März 2012 ergänzt.